Insignien der Ohnmacht

oder Pflege? Pff!

Ein paar angestochene Popanze vom Dorfverschönerungsverein haben sich (nach einer sehr anstrengenden Sitzung) rund um den Gneisfindling in der Ortsmitte versammelt. Der Oberpopanz erklimmt mühsam den Findling und fängt an zu reden, die anderen Popanze steigen nach und nach ein. Im Anschluss: Glühwein.

Na, meine Frau da soll nicht so tun jetzt – die soll lieber was tun, indem sie gepflegt der häuslichen Pflege nachgeht. Sie hat doch was von Frauenquote geschwafelt … Da! Da hat sie sie, ihre lachhafte Quote, da, ja, gerne gescheh‘n! Dreiundsiebzig Prozent in Sachen einschlägiger Pflege, sagt sie. Die verlogene Dunkelziffer angeblich noch hochprozentiger! Tja, da darf sie nun einmal federführend sein, meine Frau, ausnahmsweise. Szepter nicht nur überlassen, Szepter tatsächlich geschenkt! Sie hat sich ja darum gerissen, nein, stimmt nicht, stimmt nicht ganz, gerissen hat sie sich nicht darum, meine Frau. Da tu ich ihr Unrecht. Es war halt ihre Bestimmung, das behaupte ich mal aus meiner Mitte heraus, denn diese Pflege gehört ja zum Haus wie meine Frau selbst. Armes Haus – also das Haus jetzt, nicht meine Frau – so viel aushalten hast du schon müssen, jetzt auch noch diese mich und andere verpflegende und sich selbst komplett zerpflegende Frau.

Aber geh! Deine an die häusliche Pflege gekuschelte Frau da, die ist ja gar nicht so arm. Sie hat ja sogar noch einen tragbaren Telefonapparat! Soll sie doch beim Sozialsprengel anrufen, soll‘n doch die ihr aushelfen beim Helfen, werden ja, anders als deine Frau selbst, ordentlich unordentlich und am End, wie immer, von uns Mittigen dafür bezahlt. Wir können nicht aushelfen, nein, weil wir sind da gerade mit einer richtigen Pflege – der Brauchtumspflege – beschäftigt. Na, die hat‘s vielleicht gut, deine Frau – braucht sich nicht um so etwas Hohes wie eine schallende Brauchtumspflege zu kümmern; das haben wir ihr abgenommen – wie eine zu schwere Handtasche. Sie hat ja jetzt so eine putzige Pflege, sie ist jetzt dankenswerter Weise zwangsverheiratet in und mit diesem Zustand. Zu beneiden. Keine verantwortungsvolle Brauchtumspflege ausüben müssen, nur gepflegt einem bisschen innerhäuslicher Pflege nachgeh‘n.

Und dann trotzdem pausenlos jammern. Typisch. Was jammert die meine denn? Wohin jammert sie sich? Was? Meine jammert gar nicht? Wieso jammert die nicht? Weil sie gerade die Insulinspritzen aufzieht? Weil sie in diesem Moment eine Runde pflegeleichter Schnabeltassen auftischt oder auswischt? Weil sie mit ein paar Bettpfannen jongliert? So einem kauzigen Pflegefall namens Mein Papa ein paar bunte Tabletten eintrichtert?

Pff! Tu dir nicht Unrecht! Und sie soll nicht so tun jetzt! Soll sich lieber an die ihr überlassene Raum-, Körper- und Zeitpflege ankuscheln. Sie hat doch was von Pflegehilfen geschwafelt … Da! Da hat sie sie, ihre Hilfen, da, nein, doch nicht! Dreiundsiebzig Prozent zu kostspielig, schlimmer noch, dreiundsiebzig Prozent zu wenig wie wir! Na, da schenkt sie sich jetzt halt was Hochprozentiges ein – deine, meine federführende Drossel. Zirbenschnaps nicht nur überlassen, Zirbenen eingeschenkt. Sie wird sich an der Pflege einen Saum breit zerreißen, ja, stimmt, stimmt schon, einen Saum breit zerreißen wird sie sich dran, deine, meine Frau. Aber es ist halt ihre Bestimmung, das behaupten wir weiter aus unserer um sich greifenden Mitte, denn solche Zerreißpröbchen gehören zum und ins Haus wie die Frau selbst. Bedauernswertes Haus – also zur Abwechslung mal deine, meine Frau, nicht das Haus. So wenig (h)aushalten hast du erst müssen! Einen Pflegefall namens Unser Opa sonntagsspaziergänglich aus seiner Notdurft aufreißen und dir dabei auch noch patschert einen winzigen Zacken von der zirbengeeichten Zahnkrone ausbrechen.

Aber geh! Unsere an diese Zerreißpröbchen gewöhnte Frau, die ist eh nicht so arm. Sie hat ja sogar noch ein zeit- und zweckentfremdetes Babyphon! Soll sie doch von der Küche ins eine Pflegezimmer, von der Stube ins andere Pflegezimmer, vom Klo in beide Pflegezimmer horchen – soll doch das Babyphon ihr zu- oder sie aushorchen beim Pflegefall abhorchen, es wird ja, gleich wie unsere Frau selbst, von ihr selbst an- und abbezahlt. Wir können nicht mitzahlen bei ihrem Draufzahlen, nein, weil wir sind da mit einer wahrhaft kostspieligen Zerreißprobe – der Ortsbildpflege – beschäftigt. Na, hat die ein Glück, unsere Frau! Braucht sich nicht mehr um so etwas Unüberschaubares wie saubere Ortsbilder samt fehlerfreien Ortsschildern zu kümmern; das haben wir ihr abgenommen – wie eine zu schwere Bettpfanne. Sie muss sich nur um ihre beschaulichen Zerreißpröbchen kümmern. Zu beneiden. Keinen außerhäuslichen Ortsbildern nachlaufen müssen, nur gepflegt dem Innerhäuslichen nachgeh‘n.

Und dann trotzdem nichts dazu sagen. Schade. Warum sagt unsere Frau denn so gar nichts? Wohin schweigt sie sich? Was? Die sagt tatsächlich kein Wort? Wieso sagt die denn nichts? Sie kommt wohl nicht dazu, weil sie gerade den drolligen Pflegefall namens Stiefonkel hereinbekommen hat, ihn ein bisschen aufziehen wollte und dem dennoch kein Lacher auskommen will! Nein, sie kommt nicht zu Wort, weil sie in diesem Moment ein paar Waschlappen auskocht! Oder, weil sie sich mit so einem Fleckenteufel ein paar Patzer vom mutgemaßten Seelenkittel auszulöschen versucht?

Pff! Diese Frau da soll nicht so tun, die soll lieber in einem fort tunlichst was tun! Sie hat doch was von einem Etwas-mit-sich-anfangen geschwafelt … Da! Da hat sie es, ihr Etwas-mit-sich-anfangen, gerne gescheh‘n! Diese Frau hat so viel! Meinen Papa, unseren Opa, deinen Stiefonkel … Und bald kriegt sie Nachwuchs, diese befremdliche Frau! Ihre bettlägrige Schwester! Danach die altersschwache Großtante! Und kurz darauf wird‘s schneien herein eine benebelte Nachbarin! Mitsamt Pflegestufen, Essen auf Rädern, ja, sogar noch: Heizkostenzuschuss! Schau – wie gierig diese Frau ist! Dreiundsiebzig Prozent zu gierig ist die! Pff! Tja. Da kann sie jetzt endlos versuchen noch einmal rauszukommen, die uns komplett fremd gewordene Frau – versuchen dem Etwas-mit-sich-anfangen noch auszukommen. Dieses Szepter war ihr einfach bestimmt.

Martin Plattner

Erstveröffentlicht auf: nazisundgoldmund.net, April 2019